Ohne Vorwarnung gebissen

Schwere Hundebisse sind zum Glück wirklich selten. Dennoch liest/hört man immer wieder, der Hund habe ohne Vorwarnung gebissen.

Verständlicherweise sind die Menschen verunsichert, das Vertrauen ist zerstört und Angst macht sich breit. Mit einem Lebewesen zusammenzuleben, das man nicht einschätzen kann und das potentiell gefährlich ist, macht keinen Spaß. 

Ganz im Gegenteil, es setzt die Beteiligten unter enormen Stress.

Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass nach einem vermeintlich unvorhersehbaren Biss die Gedanken schnell zu extremen Konsequenzen für den Hund führen.

 

Doch sind all diese Bisse überhaupt unvorhersehbar und aus dem Nichts?

Zu allererst, ja es gibt tatsächlich Hunde, die bewusst oder unbewusst beißen, ohne vorher in irgendeiner Form gedroht zu haben. Macht ein Hund das bewusst, hat er üblicherweise gelernt, dass beschwichtigen und drohen nicht funktioniert. Also macht er sich nicht mehr die Mühe zu deeskalieren sondern wird sofort deutlich.

Das ist in der Natur völlig normal und auch wir Menschen verhalten uns so.

Beißt ein Hund unbewusst und grundlos, liegt ein medizinisches Problem vor. Oft handelt es sich um neurologische Ursachen und die Hunde sind vorher und nachher unauffällig und freundlich. Die Bisse selbst sind oft unverhältnismäßig, ungehemmt und richten enormen Schaden an (je nach Größe des Hundes).

 

Es ist wichtig zu verstehen, dass wir mit Trainingsmaßnahmen nur dann etwas bewirken können, wenn der Hund bewusst handelt. Also absichtlich zubeißt.

Die Gründe hierfür sind vielfältig, wobei die häufigsten im Bereich der Verteidigung einer Ressource (inklusive dem eigenen Körper) liegen.

Der Hund fühlt sich also entweder in seiner körperlichen Unversehrtheit oder in Bezug auf eine andere wichtige Ressource durch den Menschen bedroht und reagiert mit Abwehr.

Besonders häufig sehen wir hier ein vermeintlich unvorhersehbares Beißen bei kleinen Hunden, die für Pflegemaßnahmen festgehalten werden oder sogar für Videos provoziert werden (offenbar ist es lustig, wenn ein kleiner Hund mit aller Kraft versucht sein Unwohlsein auszudrücken).

Doch auch “gutmütige” Hunde werden in diesem Zusammenhang oft zu Opfern. Sie lassen sich viel gefallen und versuchen sehr lange durch Beschwichtigungssignale (zB Schlecken, Pfote heben, Kopf abwenden, Blick abwenden) aus ihrer misslichen Lage zu kommen.

Vielleicht sind dir solche Signale auch bei deinem Hund schon mal aufgefallen wenn du ihm zB das Geschirr angezogen oder die Pfoten abgetrocknet hast. 

Die Hunde versuchen auch oft einfach wegzugehen und stoßen damit auf Ungeduld, weil sie nicht einfach kurz stillhalten können.

 

Wir Menschen müssen verstehen, dass unsere Hunde hier auf sehr höfliche Art und Weise versuchen, einer für sie unangenehmen Situation zu entkommen.

Und wenn wir hier nicht zuhören, bleibt ihnen irgendwann nichts anderes mehr übrig, als deutlicher zu werden. Jeder Hund hat eine Grenze, ab wann er eben nicht mehr aushalten kann und beginnt, sich zu wehren.

Haben wir die vielen Signale vorher übersehen, kann es so wirken, als hätte der Hund ohne Vorwarnung gebissen.

Genau das ist der Grund, warum ich immer sehr hellhörig werde, wenn mir jemand sagt, “der knurrt/bellt/stellt sich an aber er würde nie beißen”. Selbst wenn das stimmt und dein Hund hat tatsächlich eine sehr hohe Schwelle, ist das Ausreizen der Gutmütigkeit wirklich keine gute Idee.

Immerhin willst du, dass sich dein Hund wohlfühlt, richtig?

Stell dir vor, wie deine Lebensqualität wäre, wenn dir ständig jemand etwas aufzwingen würde, was dir unangenehm ist und auf deine Bitte, das zu unterlassen, mit Ungeduld reagiert.

 

Doch was können wir machen, um unseren Hunden die täglich “notwendigen” Handlungen (viele davon sind tatsächlich gar nicht unbedingt notwendig) einfacher zu machen, sodass sie nicht so weit gehen müssen, zu beißen?

Für Pflegemaßnahmen und Behandlungen hat sich Medical Training als sehr hilfreich erwiesen. Hierbei lernt der Hund durch ein bestimmtes Verhalten auszudrücken, ob er noch mitmachen kann oder eine Pause braucht.

Diese kleine Veränderung bringt sehr viel Vertrauen in Bezug auf die körperliche Unversehrtheit.

 

Bei anderen Ressourcen sieht es oft so aus, dass der Hund schon angespannt reagiert, wenn sich ein Mensch nähert. Sie fressen schneller, schieben ihren Körper über die Ressource, nehmen sie in den Mund und gehen damit weg oder zeigen auch Drohverhalten (zB Knurren).

Hat der Hund gelernt, dass diese Maßnahmen nichts bringen oder sogar unangenehme Konsequenzen (zB schimpfen) für ihn haben, zeigt er sie eventuell nicht mehr, bis der Mensch so nahe ist, dass er es nicht mehr aushält und dann beißt er zu.

Dem Hund die Beschwichtigungssignale und das Drohen in diesen Situationen wieder beizubringen ist gar nicht so einfach und wir brauchen ein wirklich gutes Auge.

Videoaufnahmen helfen dabei.

 

Möchten wir hier trainerisch einwirken, können wir damit beginnen, erst einmal die Annäherung des Menschen positiv zu verknüpfen.

Dein Hund lernt also, dass ihn etwas Tolles erwartet, wann immer du dich näherst. 

Zusätzlich ist wichtig, seine Signale zu respektieren. Zeigt dein Hund also winzige Anzeichen dafür, dass er sich unwohl fühlt, kannst du das mit mehr Abstand honorieren.

Zeigt dein Hund wirklich gar keine Anzeichen mehr, kannst du einen großen Abstand wählen und mit dem Training beginnen. Wählst du zu viel Abstand, hat das keinen negativen Effekt.

Du kannst auch den Namen deines Hundes positiv belegen und ihn ansprechen, bevor du dich näherst.

Besonders wenn der Hund ruht, können wir so ein Erschrecken vermeiden.

 

Natürlich ist, wie immer, jeder Hund unterschiedlich und Training ist immer individuell. Die große Kunst dabei ist, deinen Hund wirklich lesen zu lernen.

Hierbei helfen, meiner Erfahrung nach, Videoaufnahmen besonders, denn die können wir langsamer ablaufen lassen, sodass wir auch wirklich die kleinsten Signale unserer Hunde erkennen und dann darauf achten können.

 

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